Mehr als Freunde
Der Verein VITA Assistenzhunde vermittelt Vierbeiner an Menschen mit Beeinträchtigungen. Gründerin Tatjana Kreidler verwandelt die Teams in eine gleichberechtigte Einheit - und Partner fürs Leben.
Interview Frauke Gans
Wenn Körper oder Psyche nicht nach Schema F funktionieren, gleicht der Alltag einem Hindernislauf. Hunde können betroffenen Menschen zu mehr Selbstständigkeit verhelfen und Lebensqualität schenken. Im Umkehrschluss gilt es, den Tieren die bestmöglichen Hundejahre zu garantieren. Der Verein VITA Assistenzhunde hat sich beides zum Ziel gesetzt. Und auf diesem Gebiet Pionierarbeit geleistet. Bisher konnte er 71 Hunde-Menschen-Teams durch eine eigens entwickelte ganzheitliche Ausbildungsart als Freunde und Partner auf einen gemeinsamen Lebensweg schicken. Weitere sind in Ausbildung. Diplom-Sozialpädagogin Tatjana Kreidler ist die Erfinderin der Methode und Gründerin des Vereins. Wieso macht sie das - und vor allem wie?
Tatjana, das Besondere an Ihrem Verein ist vor allem der Ausbildungsstil. Was machen Sie anders als andere?
Unser Grundsatz ist: Nur wenn es dem Hund gut geht, kann er dem Menschen helfen. Tiere sind nicht unser Eigentum. Ich möchte nicht, dass wir Menschen uns über sie erheben und Hunde nur für unsere Zwecke trainieren. Sondern dass wir mit ihnen gemeinsam so arbeiten, dass sie dabei Spaß mit uns haben. Dazu muss ich immer schauen: Wie geht es dem Vierbeiner da unten? Denn ich trage die Verantwortung für ihn. Hunde brauchen zudem Freiheit, müssen kreativ sein und ihre Fantasie spielen lassen können. Wenn wir sie nur konditionieren, verstehen sie den Sinn ihrer Arbeit nicht. Gerieten sie dann mit ihrem menschlichen Partner in eine unvorhergesehene Notsituation, wären sie handlungsunfähig. Kommandos wie "Sitz" sind bei mir darum nicht in Stein gemeißelt. Wenn ein Hund lieber stehen möchte, dann soll er das.
Sie ziehen Hunde magisch an und diese scheinen unbegrenztes Vertrauen in Sie zu haben. Wie klappt das auch bei anderen Hundemenschen?
Das ist einfach. Ich beobachte Hunde. Und versuche auf ihre individuellen Charaktere einzugehen. Wie verhält der Hund sich, wenn Fußgänger auf ihn zukommen? Oder jemand die Hand zum Beschnüffeln hinhält? Ich kenne Tiere, die das zum Beispiel nicht mögen. Dann muss ich das respektieren. Dazu gehört echtes Interesse an Hunden. Ich meine nicht nur rein wissenschaftlich, sondern für das Wesen an sich, das Individuum. Auch um seine momentane Verfassung zu erkennen, daraus Schlüsse zu ziehen und entsprechend zu handeln. Sind die Tiere müde, möchten sie einen Spaziergang machen oder Streicheleinheiten ...? Das sind Dinge, auf die ich Rücksicht nehme. Das merken sie. Dazu muss ich mich in das Tier hineindenken und gleichzeitig zulassen, dass es die Welt mit meinen Augen sieht. Das geht mit viel Ruhe, über Augenkontakt und voller Konzentration aufeinander. Mein wichtigstes Tool dafür ist unter anderem die Dummyarbeit. All das bringen wir auch den Menschen unseres Vereins bei.
Woher kommt dieser besondere Hundesinn?
Als Kind hatte ich einen Cocker Spaniel, der mich bis zu meinem 18. Lebensjahr begleitete. Meine Familie, aber vor allem mein Vater, hat mir wiederholt mit Empathie und Ruhe eindrucksvoll vermittelt: Das ist dein Freund und du bist für ihn verantwortlich. Mit Hunden konsequent zu arbeiten lernte ich als Studentin. Ich hatte eine Golden-Retriever-Hündin vom Züchter zu mir geholt. Natürlich entschied ich mich für den einen kränklichen Welpen, den keiner haben wollte. Und verwöhnte Cindy, bis sie völlig verzogen war. Los ging's zum Retriever-Training. Sie sollte mich schließlich überallhin begleiten können. Später habe ich außerdem viel von verschiedenen Hundeprofis gelernt, die ich auf Seminaren und ähnlichen Events kennenlernen durfte.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Hunde in die Sozialpädagogik einzubinden?
Ich studierte und wollte in die systemische Familientherapie. Außerdem begleitete Cindy mich auch in die Außenwohngruppen für Jugendliche, die ich während des Studiums mit aufgebaut habe. Da fiel mir auf, wie der Hund auf diese Kinder und Jugendlichen wirkte. Im Normalfall kamen sie von der Schule, pfefferten ihren Rucksack in die Ecke und ranzten sich untereinander an: "Geh mir aus dem Weg, du ... Schimpfwort ihrer Wahl." Mit dem Hund änderte sich das. Die Entwicklung glich einem Wunder. Wenn sie die Tür öffneten, fragten sie als Erstes: "Ist die Cindy da?" Es war auch unglaublich, wie selbst missbrauchte Mädchen sich in ihr Fell drückten und weinten, sich emotional öffneten. Sogar wenn sie zur Selbstverletzung neigten, fanden wir über die Hündin Zugang zu ihnen und konnten helfen. Wo wir sonst gegen eine Wand liefen.
Der Startschuss für Hunde-Kinder-Teams?
Genau. Damals gab es für Kinder kein Angebot in diese Richtung. Generell war die sozialpädagogische Arbeit mit Hunden nicht sehr verbreitet. Ich durchforstete das Internet und Bibliotheken: nichts. Aber in den USA stieß ich auf Fachliteratur. Von Psychologen, die positive Auswirkungen der Hundehaltung auf Stress und die Folgeerkrankungen untersucht hatten. Und Kinderpsychologen, die den Einfluss der Tiere speziell auf jüngere Menschen prüften. Darüber schrieb ich meine Diplomarbeit: "Können Hunde Menschen heilen?" Das sind 120 Seiten, die mir richtig Spaß gemacht haben. Damals habe ich gleichzeitig schon ein Konzept ausgearbeitet, wie man die Idee in die Realität umsetzen könnte. Dabei hatte ich immer die Stimme meines Vaters im Ohr: Es muss Hunden dabei gut gehen.
Inzwischen war ich außerdem dank meiner jetzt nicht mehr verzogenen Cindy Ausbildungsleiterin für Retriever in Frankfurt. So habe ich gelernt, mit Hunde-Mensch-Teams individuell zu arbeiten. Ich fokussierte mich auf Leute, die außergewöhnliche Probleme mit ihren Tieren hatten - es liegt immer am Menschen, klar -, um herauszufinden, wie man das Beste aus solch schwierigen Partnerschaften herausholt.
Der gemeinnützige Verein VITA Assistenzhunde stellt Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen seit 20 Jahren Hunde zur Seite, um ihre Lebenssituation zu verbessern. In seiner Basis im rheinland-pfälzischen Hümmerich werden die Teams ein Hundeleben lang betreut, manchmal sogar darüber hinaus. Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Beziehung zwischen Mensch und Tier, die auf bedingungslosem Vertrauen und vor allem gegenseitiger Achtung basiert. Ein ganzheitliches Konzept, das beiden Teampartnern zu einem größtmöglichen Maß an Lebensqualität verhelfen soll.
Allein die Kosten des Aufwachsens und der Ausbildung eines Hundes belaufen sich dabei auf grob 30.000 Euro. Hinzu kommt die gemeinschaftliche Arbeit mit Mensch und Tier. Doch der Verein erhält keine öffentlichen Fördermittel. Auch Krankenkassen beteiligen sich meist nicht an den Kosten eines Assistenzhundes. Die VITA-Finanzierung basiert ausschließlich auf Spenden, Stiftungen und Sponsoren. "Ein Assistenzhund darf kein Privileg sein, das sich nur wohlhabende Leute leisten können", so Tatjana Kreidler. "Deshalb helfen wir Menschen unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Jeder gibt, so viel er kann, und unterstützt uns bei der Suche nach Spendern oder Förderern."
Gibt es Hunde-Menschen-Teams, die Sie besonders geprägt oder berührt haben?
Viele. Aber mein erstes Kinderteam bei VITA war natürlich etwas Besonderes. Das Mädchen hatte Angst vor Hunden. Aber ihre Eltern wollten diese tierische Partnerschaft für sie. Auch ich war davon überzeugt, dass ein Hund ihr helfen kann, und stellte ihr eine Tochter meiner Hündin Mighty zur Seite. Das Mädchen litt an Morbus Faber und hatte nach der zweiten Knochenmarkstransplantation kaum noch Kraft. Durch die Verantwortung für den Hund wollte sie weiterleben. "Sie braucht mich doch. Ich muss dauernd an sie denken", sagte sie mir damals. Das sind Momente ... Ja, das war schon sehr besonders. Diese Augenblicke, wenn ein Hund ein Leben rettet, das ist überwältigend. Sie erlangte später eine tollte Leichtigkeit, mit den Tieren umzugehen, und hat noch lange durchgehalten. Aber mit 25 starb sie.
Sie sehen immer wieder Menschen sterben. Wie gehen Sie damit um?
Ja, das ist sehr schwer. Zum ersten Mal erlebte ich das bei einem Mädchen, dem wir mit acht Jahren einen Hund zur Seite stellten. Sie hatte eine muskuläre Erkrankung. Und taute durch die Hündin Lotte unglaublich auf. Das war so schön. Und dann starb sie nach einem Dreivierteljahr. Da habe ich überlegt, ob das alles Sinn hat. Und fürchtete, es auf Dauer nicht auszuhalten.
Aber die Mutter rief mich an und meinte: "Wenn du daran denkst, aufzuhören, weil unser Mädchen gestorben ist, dann machst du einen Fehler. Du hast dem Kind für acht Monate den Himmel auf Erden geschenkt. Das hätte keiner von uns so gekonnt. Es war die schönste Zeit ihres Lebens." Also beschloss ich: Okay, das ist jetzt deine Aufgabe. Ab da habe ich sie voll angenommen. Ich war inzwischen mit den Hunden auf vielen Beerdigungen. Aber immer mit dem Wissen, wie viel Glück und Freude sie diesen Menschen geschenkt haben. Oder dass sie ihnen sogar zuvor erst das leben gerettet haben. Dafür mache ich es.
Die vierbeinigen Mitglieder Ihres Vereins haben die gleiche Lebenserwartung wie der durchschnittliche gut versorgte Familienhund. Bei Assistenzhunden ist das nicht Usus ...
In England gibt es dazu Statistiken und wissenschaftliche Untersuchungen, etwa bei "Guidedogs of the blind" und "Dogs for the disabled". Ich hatte das Glück, dort ein halbes Jahr vor der Vereinsgründung arbeiten und lernen zu dürfen. Anhand der gesammelten Daten konnte man sehen, dass Assistenzhunde durch die Dauerbelastung früher starben. Das wollte ich ändern. Wir erwarten von unseren Tieren etwas. Wir schulden es ihnen also, dafür zu sorgen, dass sie ein gutes Leben haben. Dazu gehören Freizeit und Freilauf.
Unsere Tiere erreichen so im Schnitt ein Alter von 12,5 Jahren. Ganz viele sind 13, 14, sogar 15 und leben noch bei ihren Menschen. Für die meisten Zweibeiner unserer Teams ist es auch selbstverständlich, dass sie ihren Hund bis an sein Lebensende begleiten. Es ist eine wechselseitige Beziehung. Der Hund hilft dem Menschen, wo er kann. Und umgekehrt der Mensch, dessen Eltern oder sein Betreuer dem Tier. Die deutsche Assistenzhundeverordnung hat zwar auch strikte Vorgaben, was der Hund können und wie er sich verhalten muss. Aber leide ohne Rücksicht auf die individuelle Situation und das Wohlbefinden der Tiere.
Gab es in England Kinder-Hunde-Teams?
Nein, auch in England glaubte man, Kindern solle man keinen Hund an die Hand geben. Die Tiere bräuchten jemanden, der sie führt. ich habe beschlossen, das trotzdem zu probieren. Weil ich die Wirkung der Hunde auf Kinder erlebt hatte und mich das so fasziniert hat. Das heißt, auf diesem Gebiet habe ich Pionierarbeit geleistet. Und hatte damit Erfolg. Zwei Jahre später kamen die Engländer, um dieses Mal bei mir zu lernen.
Die Kreidler-Methode beinhaltet Grundsätze, die auch im Buddhismus gelten: offen für Verbesserungen, nichts ist in Stein gemeißelt, dafür ist alles im Wandel. Ist das Zufall?
Absolut. Da hatte ich keine Berührungspunkte. Aber ich schätze, der Gedanke des Ganzheitlichen passt da auch rein. Während des Trainings mit dem Hund sollen die Menschen bei uns die Chance haben, sich mit all ihren Sinnen weiterzuentwickeln. Ihnen fehlt es aufgrund ihrer Situation oft an Selbstvertrauen und Wertschätzung der eigenen Person, sie leiden unter Ängsten und Depressionen. Ihre Eltern neigen häufig zur Überbehütung oder fördern ausschließlich den Intellekt. Dabei gehört zur Lebensqualität auch ordentlich zu essen, sich selbstständig zu pflegen, selbst durch die Landschaft zu rollern, um die Natur zu genießen ...
Mit dem und für den Hund lernen sie Verantwortung zu übernehmen, sich um ihn zu kümmern. Und darüber können wir den Bogen zum Menschen selbst spannen. Dazu gehört auch Empathie. Für jeden ist der eigene Hund der beste, aber alle zusammen haben den gleichen Wert. So wird nie nur der eigene Hund gestreichelt. Wir alle zusammen bilden ein Team auf Augenhöhe, um miteinander übereinander zu lernen. Das endet nicht nach der Ausbildung. Wir bleiben ein Hundeleben lang eine Gemeinschaft, oder darüber hinaus. Viele möchten einen weiteren vierpfotigen Begleiter. So vermitteln wir den Menschen Werte, die lange an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden. Damit sie wieder einen Platz in der Mitte finden.
Warum geht das mit Hunden leichter?
Menschen sind schneller genervt. Der Hund wird geduldig immer wieder den runtergefallenen Stift aufheben und dabei sogar Spaß daran haben. Auch wenn er zum hundertsten Mal am Boden liegt. Das ist diese bedingungslose Liebe der Hunde. Deshalb bilde ich da so streng aus: Wir haben die Aufgabe, dem Hund die gleiche Wertschätzung entgegenzubringen, die er uns selbst schenkt.
Wenn Sie irgendwann keine Kraft mehr haben: Wer übernimmt Ihre Aufgabe? Wie sieht die Zukunft des Vereins aus?
Ich bin angestrengt dabei, das zu organisieren. Uns ist viel weggebrochen durch die vielen Geschehnisse in der Welt: Corona, Inflation, Krieg. Dadurch haben wir die Unterstützung von Stiftungen verloren und viele tolle Mitarbeiter, weil wir in Kurzarbeit gehen mussten. Die Methode ist da, der Verein ist da, beim Mitarbeitercoaching fange ich aber gerade von vorne an. Vieles, was ich delegiert hatte, musste ich erst mal mit übernehmen. Zusammenführungen von Hunden und Menschen, das Matching, die Nachbetreuung, überall bin ich wieder voll involviert. Aber ich bin dabei, das erneut nachhaltig aufzubauen, um die Zukunft von VITA zu sichern.
Sie brauchen Leute mit der gleichen Leidenschaft und dem gleichen Einfühlungsvermögen für Menschen und Hunde ...
... und es müssen Leute sein, die wirklich Ahnung von der Materie haben. Und das Ganze nicht als Methode zur Bereicherung sehen. Und ja, denen das Wohl der Hunde und der Menschen wirklich am Herzen liegt.
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